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Der brasilianische Cerrado

Der brasilianische Cerrado verfügt über kontinentale Ausdehnungen und ist nach Amazonien das zweitgrößte Ökosystem Brasiliens. Und nicht nur das: Er verfügt über eine phantastische biologische Bandbreite, die von einer nicht minder reichen sozialen Vielfalt an menschlichen Lebensformen begleitet wird.

Und trotzdem herrscht ein deutliches und anhaltendes Schweigen der brasilianischen und der internationalen Presse über den sich beschleunigenden Prozess der Zerstörung der Ökosysteme und dem Abbau der ökologischen Funktionen des Cerrados, wozu auch die Regulierung der wichtigsten hydrographischen Flusseinzugsgebiete Südamerikas gehört. Dieses Schweigen hat einen wahren Ethnozid an den traditionell wirtschaftenden Gemeinschaften und Völkern, die im und vom Cerrado leben, ermöglicht. Der Cerrado - das sind Hochflächen, die weite Regionen im zentralen Bereich Südamerikas einnehmen. Während die mittleren Höhen zwischen 400 und 800m über dem Meeresspiegel schwanken, erreichen einerseits mehrere Gebirgsketten, die das Hochland durchziehen, bis zu 1800m Höhe, und andererseits liegen einige Flusstäler, die das Hochland zerschneiden und die wichtigsten hydrographischen  Becken Südamerikas versorgen, nur 200m hoch.
Wenn man sich die Karte Südamerikas und insbesondere diejenige Brasiliens betrachtet und dabei auch einige Enklaven in Bolivien, Paraguay, Venezuela, Kolumbien, Surinam und Guyana berücksichtigt, sieht man, dass diese Hochländer mit einer bestimmten Vegetationsform in Verbindung gebracht werden, die man Cerrado nennt. Der Cerrado kann als ein Vegetationskomplex bezeichnet werden, der ökologische Verwandtschaft mit anderen Phytosystemen des tropischen Amerika aufweist und von völlig waldlosen Formationen bis hin zu Waldregionen reicht. Seine Lage mitten in Brasilien bringt es mit sich, dass der Cerrado mit fast allen anderen großen Vegetationsräumen des Landes in Verbindung steht – mit Amazonien, mit der Caatinga (Trockenwald des Nordostens), dem Pantanal (Sumpflandschaft am Rio Paraguay) und dem Atlantischen Regenwald.
Die Interaktionen mit den anderen Vegetationsräumen geschehen auch unter den unterschiedlichsten klimatischen Bedingungen. In diesem Zusammenhang muss auf den breiten Übergangsgürtel hingewiesen werden, der sich an den Cerrado anschließt und den Kern seines Ausbreitungsgebietes von ca. 2 Millionen km² in 13 Bundesländern der brasilianischen Föderation (was 24% der Landfläche Brasiliens entspricht) auf 3,15 Millionen km² und damit auf 37% der Landesoberfläche ausdehnt. Dadurch entsteht eine Vielfalt von Formationen, die der Verschiedenartigkeit der Oberflächengestalt und der Böden entspricht, die meistens sauer und von Natur aus wenig fruchtbar sind.{mospagebreak}

Die biologische Bedeutung des Cerrados

Der Cerrado zeichnet sich durch eine biologische Vielfalt aus, die durch einen großen Endemismus, d.h. durch ein räumlich begrenztes und weltweit einmaliges Vorkommen von ganz bestimmten Tieren und Pflanzen, verstärkt wird. Das rührt wiederum vom genetischen Austausch mit anderen Naturräumen aufgrund der weiten Übergangszonen her.
„So kommt es, dass dort, wo zwei unterschiedliche Ökosysteme aufeinanderstoßen, die Natur komplexer ist als in den Regionen mit ähnlichen Ökosystemen. Deshalb müssten diese Übergangsbereiche, von denen der Cerrado mehr als jedes andere Ökosystem aufweist und die große Flächen umfassen, mehr als jede andere Region geschützt werden, denn dort ist der größte Reichtum an komplexem Leben vorhanden.“ (Porto Gonçalves 2008, Von den Cerrados und seinen Reichtümern)
In einer vor kurzem gegebenen Erklärung im Nationalkongress zeigte die Wissenschaftlerin Ludmila Aguiar von der EMBRAPA den gegenwärtigen Stand der Kenntnisse (bzw. Unkenntnisse) bezüglich der Biodiversität des Cerrados: „Er ist ein außerordentlich wichtiger Naturraum, weil er zur zentralen Region Südamerikas gehört. Er unterhält Verbindungen mit allen brasilianischen Vegetationszonen und denen der Nachbarländer. Und er ist momentan die unbekannteste Region, was seine Biodiversität in den Neotropen betrifft. Alle Bewohner des Cerrados sind daran gewöhnt, die wild vorkommende Vegetation zu nutzen. Alle essen Hühnerfleisch mit Piqui, alle trinken Kräutertee. Und das Wissen der Leute ist noch gering. Es gibt einen hohen Grad an Endemismus. Oder anders herum: Die Pflanzen und Tiere, die hier leben, kommen an keinem anderen Ort der Welt vor. Sollten diese Tiere oder Pflanzen eines Tages verschwunden sein, verlieren wir die chemischen Wesensmerkmale, die wir in der Zukunft nutzen könnten, ohne sie jemals gekannt zu haben.“
Ein Teil des enormen Potenzials an Biodiversität der Cerrados war bereits im traditionellen Wissen der Indianer, der Schwarzen und der später dort ansässigen Landbevölkerung verankert. Der Forscher Ricardo Ribeiro untersuchte die Nutzung von Flora und Fauna durch die traditionellen Gemeinschaften und die Indianer, die in drei Cerrado-Regionen des Bundeslandes Minas Gerais leben. Diese Studie hebt die Vielfalt der Arten hervor, die für medizinische Zwecke genutzt werden oder als Obst-, Holz-, Futter- und Öllieferanten dienen, ganz zu schweigen von der großen Anzahl von wild lebenden Tieren, die zur Versorgung der nachhaltig wirtschaftenden Gemeinschaften mit Fleisch, Eiern und Honig beitragen.{mospagebreak}

Eine kurze Geschichte der Eroberung

Der Cerrado ist die Heimat von 38 unterschiedlichen Indianervölkern mit insgesamt 45.000 Individuen. Einige dieser Gemeinschaften mit weniger als 300 Personen sind vom Aussterben bedroht. Außer diesen indianischen Gruppen gibt es Hunderte von Quilombolas, also Nachkommen geflohener schwarzer Sklaven, und Tausende von ländlichen Gemeinschaften von nachhaltig wirtschaftenden Landbewohnern, die unter den verschiedensten Namen bekannt sind: geralistas, veredeiros, geraizenses, camponeses dos vãos, retireiros, barranqueiros und am Ufer und auf den Inseln des Rio São Francisco lebende vazanteiros, Kokosnussknackerinnen, pantaneiros usw. Es sind Ethnien und Gemeinschaften, die das kulturelle Erbe der indianischen Sprachfamilie der Macro Gê fortsetzen, das auf eine 12.000jährige Geschichte zurückblicken kann. So reicht eine kulturelle Verbindung von den alten Völkern der Jäger und Sammler mit ihren verschiedenen kulturellen Traditionen über Hunderte von indianischen Nationen, die dort lebten und ihren Lebensunterhalt bestritten, bis zu den Gemeinschaften der Landbewohner, die seit der kolonialen Besetzung durch die Europäer ab 1500 entstanden. Diese Eroberung und Landbesetzung erhielt durch die ständige Flucht der Schwarzen, die vom afrikanischen Kontinent stammten, in Brasilien bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in der Sklaverei lebten und im Cerrado Schutz und Auskommen fanden, eine weitere Bereicherung.
Das tausendjährige Wissen der Indianer über die unterschiedlichen Ökosysteme des Cerrados und ihre Traditionen des nachhaltigen Bewirtschaftens schließen den Anbau von unterschiedlichen Sorten von Mais, Bohnen, Kürbissen, Maniok, Ananas, Maracujá usw. mit ein. Dieses Wissen war die Voraussetzung für die Eroberung des Landes während der Kolonialzeit und eine wesentliche Grundlage für die Landbewohner und die Quilombo-Siedlungen. Und das nicht von ungefähr. Da die Böden als wenig fruchtbar und als sauer gelten und deshalb für die Mehrheit der eingeführten Kulturen ungeeignet sind, war der Cerrado zunächst kein Gegenstand der Begierde für die Feudal- und Lehensherren und danach für den Großgrundbesitz, der das Bild des ländlichen Brasilien bestimmte und immer noch bestimmt. Aber unter den Landbewohnern, seien es Mestizen oder aus Europa stammende Menschen, Schwarze, die sich als Quilombolas niederließen, Widerstand leistende oder sich mit den neuen Einwanderern vermischende Indianer, bereicherten die Vermischung und die Weiterentwicklung der Kenntnisse über die verschiedenen Umwelten des Cerrados und seine ökosystemischen Potenziale sowie die Anbaumethoden in der Landwirtschaft, die die Lebensmittel und andere Produkte für die sich seit damals bis heute entwickelnden wichtigsten Städte liefert.
Die offizielle Geschichtsschreibung ging rasch über den Cerrado hinweg. Die wilde und savannenartige Vegetation rief wenig Begeisterung bei Wissenschaftlern und Historikern hervor, die von den dichten Tropenwäldern wie dem Atlantischen Regenwald und Amazonien schwärmten. Die überwiegend niedrigen Bäume mit ihren krummen Stämmen und dicken Ligninschichten, ihren großen und ledernen Blättern, welche die weitläufigen Hochländer bedeckten – das war eine offensichtlich monotone, recht hässliche Gegend in den Augen vieler von außerhalb kommender Beobachter, und ihre Einschätzung trug zum allgemeinen Desinteresse am Cerrado bei.
Genauso wie die traditionelle Landnahme veränderte auch die extensive Viehwirtschaft der Kolonialzeit nur wenig an der Struktur der Ökosysteme des Cerrados. Der große Einschnitt erfolgte erst mit der Entscheidung, die Hauptstadt Brasiliens auf die Zentrale Hochebene zu verlegen, mit dem Bau Brasílias und der Errichtung des Bundesdistrikts in den 50er Jahren. Der Militärputsch von 1964 und die konservative Modernisierung des Hinterlandes durch die Grüne Revolution besiegelten das Schicksal dieser verschiedenartigen und einzigartigen und bis heute weitgehend unbekannten Ökosysteme. Die Entwicklung genetisch einheitlicher Anbauprodukte, der Einsatz chemischer Stoffe – Düngemittel und Agrargifte – verwandelten die Landschaftszonen des Cerrados, in denen die Mechanisierung durch die riesigen flachen Oberflächen erleichtert wurde, in einen der größten Produzenten von agrarischen Gütern für die globalisierte Welt: Soja, Rindfleisch, Kaffee, Zucker und – seit Neuestem Ethanol.{mospagebreak}

Der sterbende Cerrado

Heute erleidet der brasilianische Cerrado, seine Völker und traditionellen Gemeinschaften ein Dilemma, das ihm vom globalen Kapitalismus aufgebürdet wurde. Das deutliche und hier nützliche Schweigen der nationalen und internationalen Gesellschaft, die große Produktmengen vom Cerrado verlangt, erlaubt den beispiellosen Vormarsch der Agrarfront gegen die letzten überlebenden Einheimischen, deren sozialer Widerstand von den Medien nicht wahrgenommen wird. In kaum weniger als 50 Jahren wurde der Cerrado enorm verändert, wie uns eine kürzlich erschienene Studie der Nichtregierungsorganisation Conservação Internacional zeigt. Wenig mehr als 40% der ursprünglichen Vegetation des Cerrados blieb erhalten. Zur gleichen Zeit setzte sich ein Massaker an den dort seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden lebenden Bevölkerungsgruppen fort. Die MOPIC (Mobilisierung der Indianervölker des Cerrado) protestierte in einem Schreiben vom 13. Dezember 2007 dagegen, dass allein in diesem vorletzten Jahr 28 indianische Führer der Guarani Kaiowá ermordet wurden, die in der expandierenden Soja- und Zuckerrohrzone von Mato Grosso do Sul leben. Im gleichen Jahr ermordeten bewaffnete Milizen des mächtigen multinationalen Konzerns VM-VALLOUREC & MANNESMANN TUBES einen Kleinbauern, der Brennholz zum Kochen auf dem 130.000 ha großen Gelände einer Eukalyptusmonokultur im nördlichen Minas Gerais sammelte. Dieses Verbrechen führte dazu, dass der Konzern nach sechs Jahren voller Proteste endlich das FSC-Siegel einbüßte. Im westlichen Bahia, in Maranhão, Piauí, Pará und Mato Grosso do Sul wurden 2007 mehr als 100 Landarbeiter befreit, die unter sklavenähnlichen oder anderweitig menschenunwürdigen Verhältnissen geschuftet hatten. Eine gewaltige Kraftanstrengung der Bewegungen der Landarbeiter, Indianer, Quilombolas, der Nichtregierungsorganisationen, Professoren, Studenten und jetzt auch der europäischen Organisationen wird notwendig sein, um das enorme Potenzial des Cerrados, seine sozio-kulturelle Vielschichtigkeit sichtbar werden zu lassen. Die Maschinerie der Zerstörung, die über den Cerrado hinweggeht, muss aufgehalten werden.

Carlos Alberto Dayrell ist Agrarwissenschaftler am Centro da Agricultura Alternativa, Montes Claros, Minas Gerais
Igor Simoni Homem de Carvalho ist Biologe an der Universität Campinas