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Der Cerrado – eine fast unbekannte Region Brasiliens

“Cerrado?“ Nahezu unvermeidlich ist es, dass einem diese Gegenfrage mit ungläubigem Schulterzucken selbst von ausgewiesenen Brasilieninteressierten gestellt wird, wenn man versucht, über den Cerrado in Brasilien zu sprechen - immerhin ein Gebiet, in dem etwa 22 Millionen Menschen auf einer Fläche leben, die knapp sechsmal größer als Deutschland ist. 

Dabei handelt es sich bei dem im Zentrum Brasiliens gelegenen Cerrado um ein Ökosystem, das eigentlich ständig in vielen Zusammenhängen in der Diskussion ist. Die Ausweitung des Sojaanbaus wird heftig diskutiert, nur dass dies hauptsächlich auf Kosten des Ökosystems Cerrado geschieht, ist dabei kaum wahrnehmbar. Das Moratorium für den Anbau von Soja in Amazonien, heftig beklatscht von Umweltschützern, erhöhte noch den Druck der Sojapflanzer auf den Cerrado. Das geschah, obwohl der Cerrado von Ökologen als einer von 34 weltweiten Biodiversitäts-Hotspots bezeichnet wird und er als einer der artenreichsten Savannenregionen der Erde gilt. Trotzdem wurde der größte Teil der Cerradovegetation in den letzten Jahrzehnten, nahezu unbemerkt von der Weltöffentlichkeit, vernichtet. Der Rest ist bedroht.
Der Verlust des Cerrados ist aber bei weitem nicht nur eine ökologische Katastrophe, sondern vor allem auch eine soziale. Die aggressive Ausweitung der Agrarindustrie und der Rinderweidewirtschaft geht in vielen Fällen zulasten der traditionellen Bevölkerung. Diese Gruppen werden zurückgedrängt auf die Restflecken Cerrado, die sie mit traditionellen Methoden und in der Regel nachhaltig bewirtschaften. Viele der traditionellen Gemeinschaften leben heute regelrecht eingepfercht zwischen Monokulturen. Ihre Zurückdrängung provozierte in den letzten Jahren viele Landkonflikte, die nicht selten durch internationale Solidaritätskampagnen für die Betroffenen begleitet wurden. Deren Wahrnehmung als Konflikte im Cerrado erfolgte dabei jedoch nicht.
Der traditionellen Bevölkerung im Cerrado wird in Zukunft verschärft unsere Aufmerksamkeit gelten, denn sie  beginnt sich langsam zu organisieren. Wir werden uns an Bezeichnungen wie Geraizeiros und Vazanteiros gewöhnen müssen, die kulturelle Ausdrucksweisen repräsentieren, aber eben auch historisch gewachsene nachhaltige Bewirtschaftungsformen für spezifische Regionen des Cerrados. Durch deren zunehmend konkreter werdenden Forderungen nach gemeinsamen Territorien wird zudem die Landfrage unter erweiterten Gesichtspunkten diskutiert werden müssen.
Das Cerradogebiet gilt für die brasilianische Regierung als unverhandelbar. Dies gilt nach außen, ist aber auch sichtbar in ihrer harten Haltung gegenüber den Forderungen der sozialen Bewegungen des Cerrados. Es wird quasi als das „natürliche“ Gebiet der Agrarindustrie betrachtet, wenn man schon bereit ist, in Amazonien Kompromisse einzugehen.
Insgesamt gibt es somit international eine erstaunliche Nichtwahrnehmung des Cerrados mit seinen vielfältigen Problematiken. Wird das Ökosystem mit seinen Völkern, Gemeinschaften und anderen Bewohnern hingegen als Ganzes begriffen, ist es leichter, umfassende Gegenstrategien – die wir für nötig halten – zu entwickeln, die über Einzelkonflikte hinausweisen.
Das alles sind mehr als genug Gründe, um sich mit dem Cerrado intensiver auseinander zu setzen. In diesen BrasilienNachrichten versuchen verschiedene Autorinnen und Autoren, die meisten davon aus dem Cerrado Brasiliens, diese Großregion ihres Landes den Lesern näher zu bringen. Sie erklären das Ökosystem, kommentieren eine ambivalente Regierungspolitik, beschreiben die vielfältigen Konflikte und stellen der deutschsprachigen Leserschaft seine Bewohner und deren Widerstandsstrategien vor.

Dieter Gawora ist Soziologe an der Universität Kassel.