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Die Ableitung des Rio São Francisco zeigt ihr wahres Gesicht

Seit Jahren protestieren Organisationen der Zivilgesellschaft gegen das gigantische Bauvorhaben der Ableitung des Rio São Francisco, die Transposição, eines der umstrittensten Großprojekte der Regierung Lula.
von Magnólia Bernardes, CPT Bahia, Übersetzung: Andrea Zellhuber

Dieses Megaprojekt, das überwiegend der exportorientierten Bewässerungslandwirtschaft zu Gute kommt, leitet in zwei insgesamt 620 km langen Kanälen das Wasser des Rio São Francisco in die nördlichen Trockengebiete des Nordostens ab. (Die BN berichteten regelmäßig darüber.)
Im letzten Jahr wurden die Bauarbeiten beschleunigt vorangetrieben. Dabei ist die wahlkampfpolitische Bedeutung des Projektes nicht zu übersehen. Nach den Verlautbarungen des Präsidenten soll der Ostkanal noch 2010 fertig gestellt werden, der Nordkanal 2012.
Höhepunkt der vorgezogenen Wahlkampfpropaganda war im Oktober 2009 Lulas dreitägiger Besuch der Baustelle. Begleitet wurde er von der PT-Präsidentschaftskandidatin Dilma Rousseff, einer Delegation von vier Ministern (darunter auch der Minister für nationale Integration, Geddel Vieira Lima, der in den diesjährigen Wahlen für das Amt des Gouverneurs des Bundeslandes Bahia kandidieren wird), acht Gouverneuren und einem Tross von 26 Journalisten. Die Bauarbeiten wurden medienwirksam in Szene gesetzt.
In weiten Teilen der Trasse finden bereits Abholzungen, Sprengungen und Planierungsarbeiten statt. Von den geplanten 620 km Betonkanälen existieren allerdings nur die ersten Kilometer der Zuleitungskanäle.
Der tatsächliche Verlauf der Bauarbeiten hinkt noch weit hinter den hochgesteckten Zielen her. Erst im Februar musste die Arbeit auf Grund von Streiks der Bauarbeiter gestoppt werden. Am Nordkanal besetzten zudem die anliegenden Bauern die Baustelle, um gegen die fehlenden Entschädigungszahlungen zu protestieren. Das zeigt, dass das Projekt bei weitem nicht so abläuft, wie es die bunten Hochglanzbroschüren und Propagandavideos der Regierung weismachen wollen. {mospagebreak}
Ende November 2009 organisierte ein breites Netzwerk von Organisationen aus dem Nordosten, darunter die Landpastorale CPT und die Volksbewegung „Articulação Popular São Francisco Vivo,“ eine einwöchige Gemeinschaftsarbeit (mutirão) in den von den Bauarbeiten betroffenen Gebieten. Neun fünfköpfige Teams durchquerten das riesige Projektgebiet. Ihnen bot sich ein trauriges Bild von der Situation der betroffenen Bevölkerung. Selbst in Dörfern, in denen die Bagger bereits vor der Tür stehen, ist eine völlige Desinformation die Regel. Familien, deren Häuser auf der Trasse der Kanäle liegen, erhielten nur vage Informationen über den Bau von so genannten Agrovilas, Siedlungen mit kleinen Produktionsflächen, in die sie umgesiedelt werden sollen. Die Behörden gaben bisher keine gesicherten Antworten auf die Fragen, wann die geplanten 18 Agrovilas fertig gestellt sein werden und wann die Familien die Häuser tatsächlich beziehen können. Insgesamt wird die Zahl der notwendigen Umsiedlungen vermutlich deutlich höher sein als die nach offiziellen Angaben 703 Familien.
Sehr verbreitet sind Versprechungen neuer Arbeitsmöglichkeiten für die Dorfbevölkerung. Doch viele machten bisher die Erfahrung, dass die Hilfsarbeiter schon nach wenigen Monaten wieder entlassen werden, wenn die Baufirmen weiterziehen.
Die großen Widersprüche dieses Projektes, das vorgibt, die Lebensbedingungen im Nordosten zu verbessern, aber in Wirklichkeit die Lebensgrundlage vieler Kleinbauern zerstört, treten immer deutlicher zu Tage. Während der einwöchigen Gemeinschaftsarbeit wurde dokumentiert, wie der Bau des Ableitungsprojektes zahlreiche Brunnen und Zisternen zerstört. In Mauriti im Bundesland Ceará zum Beispiel müssen Bauern, die mit ihrer kleinbäuerlichen Bewässerungslandwirtschaft ein gutes Auskommen hatten, einem Staubecken weichen. Die gezahlten Entschädigungen reichen aber nicht für den Kauf neuer Grundstücke, da das Ableitungsprojekt die Immobilienspekulation ankurbelte. Der Tenor der befragten Familien lautet: „Wir wissen nicht, wo wir hinsollen.“
In allen während dieser „mutirao“ besuchten Dörfern klagten die Bauern über die völlig unzureichenden Entschädigungszahlungen. Die Beträge schwankten zwischen 100 und 300 Reais pro Hektar (das entspricht 40 bzw. 120 Euro). Allerdings sind die Betroffenen meist zu sehr eingeschüchtert und wagen es deshalb nicht, angemessene Entschädigungen von den Behörden zu verlangen. Auch aus Angst, dass sie wegen ihrer Beschwerden womöglich völlig leer ausgehen könnten, akzeptieren sie die geringfügigen Zahlungen.{mospagebreak}
Häufig kommt es sogar zu großen Verzögerungen oder ausbleibenden Entschädigungszahlungen wie in den Gemeinden São José de Piranhas und Cajazeiras im Bundesland Paraíba, wo die aufgebrachten Landeigentümer deshalb den Fortgang der Bauarbeiten behinderten. Die Protestaktionen in Paraíba zeigen, dass die Unzufriedenen sich immer stärker und nachdrücklicher äußern.
Ein wichtiger Schritt der Widerstandbewegung war eine Rundreise durch Europa, an der Vertreter verschiedener von der Transposição betroffener indigener Völker teilnahmen. Auf Einladung italienischer Menschenrechtsorganisationen gab es zahlreiche Treffen mit Politikern und Nichtregierungsorganisationen in Italien, in der Schweiz, in Belgien und in  Deutschland. Höhepunkt der Reise war eine Anhörung bei den Vereinten Nationen in Genf. Die Indigenen trafen mit Mitarbeitern der Sonderberichterstatter für die Rechte indigener Völker sowie zahlreichen Repräsentanten der für Menschenrechte zuständigen Gremien des UN-Hochkommissariats zusammen und berichteten über die Menschenrechtsverletzungen, zu denen es wegen der Flussableitung gekommen ist. Sie übergaben einen ausführlichen Bericht, der unter folgendem Link heruntergeladen werden kann: http://www.apoinme.org.br
Das Wahljahr 2010 wird zeigen, wie sich angesichts dieser eklatanten Missstände bei der Durchführung des Projektes die öffentliche Debatte um die Transposição entwickelt. Dabei stehen nicht nur die Flussableitung des Rio São Francisco zur Debatte, sondern auch andere Megaprojekte wie der Großstaudamm Belo Monte in Amazonien. Man muss davon ausgehen, dass die wachsende Kritik an den Großprojekten der Regierung sich auch im Wahlkampf niederschlägt. Ein Ausblenden dieser brisanten Themen, wie es im Wahlkampf 2006 der Fall war, kann dieses Jahr kaum mehr möglich sein.