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Die brennende Lunge

Im Herbst 2005 geschah tatsächlich das, was schon einige Klimaforscher und Schwarzseher Jahre zuvor prophezeit und befürchtet haben. Viele Flüsse Nordamazoniens trockneten vor zwei Jahren zu dünnen Rinnsälen aus.

Zigtausende von Fischen blieben im Schlamm stecken und verwesten in der Gluthitze der Sonne. Die Menschen, die ansonsten in ihren Booten von Dorf zu Dorf fahren, benutzten jetzt die ausgetrockneten Flussbette als Fußwege. Und der Wald brannte in einem Ausmaß, wie die meisten Wissenschaftler es vorher aufgrund der normalerweise vorhandenen Feuchtigkeit für kaum möglich gehalten hätten. Die Ursache für diese Jahrhundertdürre war nach Meinung der meisten Klimaforscher die allgemeine Klimaerwärmung. Sie führte im Herbst 2005 dazu, dass das Oberflächenwasser des Atlantik zwei Grad wärmer als normal war. Mehr Niederschlag als normal regnete aufgrund der höheren Verdunstung direkt über dem Meer ab, während sich über dem benachbarten Amazonien ein Hochdruckgebiet mit wenig Wolken und kaum Niederschlag entwickelte.

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Noch spricht man von einer Jahrhundertdürre, aber genauso wie sich bei uns in Europa die „Jahrhundertstürme“ und  Jahrhundertüberschwemmungen“ in letzter Zeit häufen, könnte schon bald von regelmäßigen Dürren direkt unter dem Äquator die Rede sein.
Der amazonische Regenwald bedeckt eine Fläche von 4,1 Mio. km² und ist immer noch das größte geschlossene tropische Waldgebiet der Welt. Seit Beginn der brasilianischen Militärdiktatur (1964-85) dringen aber mehr und mehr Bauern, Siedler, Industrielle, Abenteurer der verschiedensten Couleur tief in die „grüne Hölle“ ein und zerstören sie. In den Jahren 1990-95 verschwanden im brasilianischen Teil Amazoniens hauptsächlich aufgrund der Brandrodung jährlich 14.000 km² Regenwald. In der Zeitspanne zwischen 1995 und 2000 waren es schon jedes Jahr 20.000 km². In der Epoche darauf hat die Vernichtung sogar noch rasant auf durchschnittlich 24.000 km² zugenommen. Schon 20% des Regenwaldes, der Jahrtausende brauchte, um diese enorme Vielfalt an Tieren und Pflanzen zu erzeugen, sind unwiederbringlich verschwunden. Sollte die Vernichtung der amazonischen Regenwälder im momentanen Tempo weitergehen, wird bis zum Jahr 2050 die Hälfte des Waldes verschwunden sein. Das sagen zumindest die Wissenschaftler.


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Wie ist dieser Zuwachs an Zerstörung gerade in letzter Zeit zu erklären? Früher spielte der illegale Holzeinschlag eine große Rolle. Auch heute werden immer noch vier von fünf Bäumen illegal gefällt und verschoben. Zur Rodung der Wälder aufgrund der Holzausbeute sind aber in den beiden letzten Jahrzehnten andere entscheidende Faktoren hinzugekommen. Es sind vor allem die Viehzucht und der agroindustrielle Sojaanbau. Weideten Anfang der 90er „erst“ 20 Millionen Rinder in Amazonien, so waren es 2005 schon 60 Millionen. Im gleichen Jahr produzierte das brasilianische Amazonien 20 Millionen t Soja – eine Region, von der lange angenommen wurde, dass in ihr aufgrund der extrem unfruchtbaren Böden keine Landwirtschaft im umfassenden Sinne betrieben werden kann. Der überraschende Umschwung kam, als André Maggi, ein Nachkomme italienischer Siedler aus Südbrasilien, vor ca. 25 Jahren nach Mato Grosso umzog und Landwirtschaft im modernsten Sinne mit großen Maschinen, Agrochemie und wissenschaftlicher Unterstützung einführte. Seit 2001 führt sein Sohn Blairo Maggi, der 2003 unangefochten zum Gouverneur des Bundeslandes Mato Grosso gewählt wurde, den Familienbetrieb, der vor allem Soja anbaut. Die Sojafront dehnt sich seitdem immer weiter nach Norden aus, wobei die Überlandstraße BR 163, welche die Landeshauptstadt Mato Grossos, Cuiabá, mit der nördlich gelegenen Hafenstadt Santarém verbindet, mehr und mehr zum Einfalltor nach Amazonien wird. In Santarém am Rio Tapajós, der dort in einem breiten Trichter in den Amazonas mündet, liegt der große Sojahafen der US-amerikanischen Firma Cargill. Während die Sojabauern in der Vergangenheit ihre Produktion auf Lastern über Tausende von Kilometern in die südostbrasilianischen Häfen transportieren mussten, können sie seit wenigen Jahren die preisgünstigere Nordroute wählen. Nach der vollständigen Asphaltierung der BR 163, die in Kürze vollendet sein wird,  sollen sich die Kosten sogar noch weiter verringern. Momentan deutet wenig darauf hin, dass der Sojaboom, der Brasilien seit etwa zwei Jahrzehnten heimsucht, langfristig gebremst werden könnte. Europa und darunter auch Deutschland bezieht weiterhin Soja als Kraftfutter für seine Rinder. Seit neuestem wachsen auch die Exporte in andere Länder, darunter China. Seitdem Soja vermehrt auch zu Biodiesel umgewandelt wird, zeichnet  sich ein weiterer Boom ab. Was die Sojabauern erfreut, treibt dem Klima- und Umweltschützern die Sorgenfalten ins Gesicht. Denn eines ist klar: Solange sich Soja international gut verkaufen lässt, werden umso mehr Flächen in Amazonien, wo der Bodenpreis extrem niedrig und die staatliche Kontrolle oft überhaupt nicht vorhanden ist, für den Sojaanbau eingesetzt werden. Die Folge davon sind weiterhin brennende Wälder und zerstörte Natur.  Die „grüne Lunge“ der Welt brennt, und es zeichnet sich kein Ende der Feuerzeit ab.
Die Lage stellt sich umso düsterer dar, wenn man die Planungen der Bundesregierung für Amazonien mitberücksichtigt. Präsident Lula setzt voll und ganz auf die agroindustrielle Erschließung des amazonischen Landesinneren und auf eine Verbesserung der dortigen Infrastruktur mit Hilfe der alten Rezepte aus der Zeit der Militärdiktatur. Überall sollen neue Straßen gebaut oder asphaltiert werden, große Staudämme am Rio Xingu und Rio Madeira stehen ebenfalls ganz oben auf der Maßnahmenliste der Regierung. Die agroindustrielle Landwirtschaft wird genauso wie die Industrialisierung Amazoniens vorangetrieben. Zwar hat die Regierung in Brasília große Gebiete zum Naturschutzgebiet erklärt, aber das bleibt solange reines Lippenbekenntnis, solange es keinen wirksamen Schutz dieser riesigen Regionen gibt. Er könnte durch eine effizient arbeitende Naturschutzorganisation mit weit reichenden Befugnissen garantiert werden. Zwar gibt es seit Ende der 80er Jahre die staatliche Umweltbehörde IBAMA, aber ihre Wirkungsmöglichkeiten sind eng begrenzt. Eigentlich fehlt es an allem. Es fehlt an Personal, an Geld, an staatlicher Unterstützung, etwa durch die Polizei und das Militär. IBAMA sprach z.B. 2004 Strafen in Höhe von 600 Millionen Reais an Umweltsünder aus, konnte aber nur 2% dieser Summe eintreiben. Die alltägliche Vetternwirtschaft zwischen Großgrundbesitzern und staatlichen Behörden verhinderte ermutigendere Ergebnisse. Die Beamten der IBAMA können an vielen Stellen überhaupt nicht in Aktion treten, da sie auf den breiten Widerstand der örtlichen Bevölkerung stoßen. Insbesondere dort, wo der Einfluss der Holz- und Sojamafia groß ist, gerät ihre Tätigkeit oft zum Spießrutenlauf. Schon des Öfteren wurden Beamte der IBAMA aus Ortschaften vertrieben oder ihre Büros müssen mit Stacheldraht vor Überfällen geschützt werden. Die schwache Position der Umweltschutzministerin Marina Silva innerhalb der Lula-Regierung trägt ebenfalls nicht dazu bei, hoffnungsvoll in die Zukunft zu schauen. Vor einiger Zeit sah es sogar so aus, als wolle der Staatspräsident sie absetzen. Aus verschiedenen Gründen, sicherlich auch wegen der befürchteten internationalen Kritik, sah er dann doch davon ab. Da sie, ehemalige Gummisammlerin, Mitarbeiterin des legendären Chico Mendes und Ikone der brasilianischen Umweltbewegung, die Kritik im In- und Ausland an der brasilianischen Amazonaspolitik allein schon durch ihre Anwesenheit dämpft, ist Lula gut beraten, wenn er sie auf ihrem Posten belässt und an ihr vorbei mit seinen mächtigen Partnern in Politik und Wirtschaft die Weichen für Amazonien stellt.

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Wie aber soll es weitergehen? Die Zeichen stehen auf Sturm. Amazoniens Wälder waren noch nie so gefährdet wie heute, und der Widerstand gegen die ungehemmte Vernichtung dieser einmaligen Region, die weitaus mehr Tier- und Pflanzenarten als ganz Europa beherbergt, schwächelt. Seit dem Jahr 2000 gibt es exakte Klimamodelle für Amazonien. Sie sagen die Austrocknung Amazoniens voraus, sollte die Zerstörung der Wälder wie bisher voranschreiten. Der Erdsimulator im japanischen Yokohama, der leistungsstärkste Computer der Welt, berechnet für Amazonien in der Zukunft deutlich weniger Regen und Temperaturen bis zu 50° Celsius. Wie ist das zu erklären? Es hängt damit zusammen, dass sich Amazonien zu drei Vierteln selbst  mit Niederschlägen versorgt. Die vom Atlantik kommenden Winde treiben Regenwolken über das Festland. Sie regnen sich dort ab, und das Wasser sammelt sich in Bächen und Flüssen. Aufgrund der hohen Temperaturen verdunstet aber auch sehr viel Wasser in Amazonien. Es steigt in die Atmosphäre auf, kühlt sich dort wieder ab und fällt ein weiteres Mal in Form von Wassertropfen auf das Blätterdach der Wälder. Dieser Prozess wiederholt sich mehrere Male in Amazonien. Die Regenwalze funktioniert aber nur solange, wie der Wald als geschlossenes Ökosystem existiert. Wird der Wald gerodet, nehmen die Niederschläge ab und die Temperaturen steigen, da die Sonnenstrahlen ungehindert bis auf den Erdboden vordringen können.  
In Amazonien sind ca. 120 Milliarden Kohlenstoff in der Biomasse gebunden. Würde der Wald verschwinden, entwichen sie in die Atmosphäre. Derzeit emittieren alle Länder der Erde jährlich 25 Milliarden t Kohlenstoff. Schon heute gehört Brasilien trotz seiner relativ kleinen Stahlproduktion und trotz einer extrem ausgebauten Stromerzeugung durch Wasserkraft zu den zehn größten Treibhausproduzenten der Welt. Das hängt mit der Entwicklung in Amazonien zusammen, denn 60% des Kohlendioxidausstoßes Brasiliens gehen auf das Konto des Kahlschlags und der Brandrodung. Wie gesagt: 20% des Waldes sind bereits verschwunden. Viele Wissenschaftler rechnen damit, dass der Zusammenbruch des gesamten Ökosystems erfolgt, wenn 30% des Waldes nicht mehr vorhanden sein sollten. Die Zeit zur Rettung Amazoniens läuft also ab. Die ehemals als „grüne Lunge“ der Welt gefeierte Amazonasregion verbrennt.


Quelle: Rainer Stadler, Das Drama des Dschungels