Die Umleitung des Rio São Francisco
{mosimage}Der Bau der Umleitung des Rio São Franscisco, der Transposição, eines der umstrittensten Großprojekte der Regierung Lula, ist ungeachtet der Proteste in vollem Gange. In diesem Mega-Projekt, das überwiegend der exportorientierten Bewässerungslandwirtschaft zu Gute kommt, wird in zwei insgesamt 700 km langen Kanälen Wasser des Rio São Francisco abgeleitet und in die nördlichen Trockengebiete des Nordostens geleitet.
2004
- Lula nimmt das Projekt der Flussumleitung als Priorität in das Regierungsprogramm auf.
2005
- 26.09 bis 06.10.05 – Dom Luiz Cappio beginnt sein Fasten gegen das Flussumleitungsprojekt in Cabrobó (Pernambuco) und macht damit die öffentliche Meinung auf die Manipulation durch die Projektpropaganda aufmerksam. Aufgrund des öffentlichen Drucks entsendet Präsident Lula den damaligen Minister Jaques Wagner als Verhandlungsführer. Der „Hungerstreik“ endet mit einem beiderseitig unterzeichneten Übereinkommen, in dem die Bildung einer Verhandlungskommission und der Beginn eines Dialogprozesses festgelegt wird. Es soll über die effizienteste Art der Wasserversorgung für die Bewohner der semiariden Region und über die nachhaltige Entwicklung der Region sowie die Revitalisierung des Rio São Francisco öffentlich diskutiert werden.
- November – Die Bundesstaatsanwaltschaft, die Staatsanwaltschaft des Bundeslandes Bahia und das NGO-Netzwerk „Permanentes Forum zur Verteidigung des São Francisco in Bahia“ reichen eine neue Klage gegen das Projekt beim Obersten Gerichtshof (STF) ein und fordern die Einstellung des Genehmigungsverfahrens.
- 15.12.05 – Erste Audienz des Präsidenten Lula mit der Verhandlungskommission und Dom Luiz Cappio.
2006
- 06. bis 07.07.06 – Workshop über nachhaltige Entwicklung im semi-ariden Gebiet zwischen Vertretern der organisierten Zivilbevölkerung und Vertretern der Bundesregierung. Es entstehen drei thematische Arbeitsgruppen, um die Debatte über die Revitalisierung zu vertiefen.
- 04. bis 07.10.06 – Mobilisierungs- und Bildungs-Camp in Cabrobó (Pernambuco) zur Entwicklung gemeinsamer Strategien des Widerstandes mit Teilnahme der sozialen Bewegungen, der Fischer, der indigenen Gruppen und anderer traditioneller Bevölkerung.
- 10.11.06 – Der Oberste Rechnungshof veröffentlicht die Verfahrensprüfung des Flussumleitungsprojektes und stellt Empfehlungen an das zuständige Ministerium aus.
- Dezember – Veröffentlichung des Atlas des Nordostens der Nationalen Wasserbehörde (ANA), der alternative Vorschläge für die Wasserversorgung in den Kleinstädten der neun Bundesländer des Nordostens sowie des Nordens von Minas Gerais enthält.
- 19.12.06 – Der Oberste Bundesrichter Sepúlveda Pertence (STF) erklärt die elf Einspruchsverfahren, die den Beginn der Arbeiten der Flussumleitung verhinderten, für unrechtmäßig.
2007
- 22.01.07 – Veröffentlichung des Programms zur Beschleunigung des Wachstums (PAC). Darin sind öffentliche Mittel im Umfang von R$ 6,6 Milliarden (2,5 Mrd. Euro) für den Zeitraum von 2007 bis 2010 für das Flussumleitungsprojekt bestimmt.
- 05.02.07 – Das NGO-Netzwerk „Permanentes Forum zur Verteidigung des São Francisco in Bahia“ reicht erneut eine Klage beim Obersten Bundesgerichtshof gegen die Entscheidung des Bundesrichters Pertence ein, der die laufenden Klagen aufgehoben hatte.
- 12.02.07 - Der oberste Bundesstaatsanwalt Fernando Antonio de Souza reicht eine Klage beim Obersten Bundesgerichtshof ein und fordert, das Genehmigungsverfahren für die Bauarbeiten der Flussumleitung zu suspendieren.
- 21.02.07 - Dom Luiz Cappio schickt einen Brief an Lula, in dem er die Wiederaufnahme des Dialogs fordert.
- 12. bis 16.03.07 - Protest-Camp in Brasília „Für das Leben des Rio São Francisco und des Nordostens, gegen die Flussumleitung“, mit mehr als 600 Teilnehmern aus dem Flusstal und anderen Bundesländern, so z.B. aus Ceará und São Paulo.
- 13.03.07 - Die brasilianische Bundesumweltbehörde (IBAMA) vergibt die Baugenehmigung für den Beginn der Bauarbeiten.
- 16.03.07 - Geddel Vieira Lima wird zum Amtsnachfolger von Pedro Brito als Minister des Ministeriums für Nationale Integration ernannt.
- 16.04.07 - Die brasilianische Rechtsanwaltskammer von Sergipe (OAB.SE) erhebt Klage gegen das Umleitungsprojekt. Das Dokument mit 150 Gutachten besteht aus einer Studie der Weltbank sowie Berichten über die hydrologischen Bedingungen in den Empfängerbundesländern, in denen die Probleme der Wasserknappheit auf die schlechte Verteilung des Wassers zurückgeführt werden.
- Mai - Das Militär beginnt mit den Bauarbeiten bei den Wasserentnahmestellen am Nord- sowie am Ostkanal des Projektes.
- 04.06.07 – Ein Brief von Vertretern der Zivilgesellschaft fordert die Einhaltung des 2005 von der Regierung beschlossenen Abkommens. Es unterzeichnen den Brief: Dom Luiz Cappio, Adriano Martins, Yvonilde Medeiros, Jonas Dantas (Permanentes Forum zur Verteidigung des São Francisco), Luciana Khoury (Staatsanwaltschaft Bahia), ASA (Netzwerk der Nichtregierungsorganisationen des semi-ariden Region), Frente Cearense für eine Neue Wasserkultur; Forum Sergipano, Via Campesina Brasil, Landlosenbewegung MST, Quilombolas, Fischer und indigene Völker des Flusstals sowie die Staatsanwaltschaft von Sergipe und die Professoren João Suassuna und João Abner.
- 26.06 bis 04.07.07 - Mehr als 1.500 Aktivisten besetzen die Baustelle des Nordkanals des Projektes der Umleitung in Cabrobó (Pernambuco). An den folgenden Tagen führen die indigenen Gruppen der Truká und Tumbalalá Landnahmen auf ihren angestammten Territorien in der gleichen Region durch.
- Juli - Der oberste Bundesstaatsanwalt reicht eine Petition ein, in der er die unmittelbare Suspension der Bauarbeiten der Flussumleitung fordert.
- 19.08. bis 01.09.07 - Fachleute und Vertreter der Zivilgesellschaft unternehmen eine Kampagnen-Reise durch elf brasilianische Großstädte. In öffentlichen Veranstaltungen werden die zentralen Argumente gegen die Flussumleitung und Gegenvorschläge für die ländliche Entwicklung in der semiariden Region vorgestellt und diskutiert.
- 10. bis 14.09.07 - Basisarbeits-Kampagne in den Dörfern und Städten entlang des geplanten Ostkanals mit Beteiligung von Vertretern verschiedener sozialer Bewegungen.
- 03. bis 10.11.07 - Basisarbeits-Kampagne in den Dörfern und Städten entlang des geplanten Nordkanals mit Beteiligung von Vertretern verschiedener sozialer Bewegungen.
- 27.11.07 - Dom Luiz Cappio nimmt den Hungerstreik wieder auf und bekundet, diesen erst abzubrechen, sobald das Militär aus der Region abgezogen und das Projekt der Flussumleitung endgültig zu den Akten gelegt wird.
- 25. bis 27.2.08 – 93 soziale Bewegungen treffen sich in Sabradinho um über das weitere Vorgehen zu beraten.
{mospagebreak}
Bei dem Treffen in Sobradinho vom 25.bis zum 27. Februar analysierten die Teilnehmer/-innen die bestehenden Verhältnisse in Bezug auf die Wasserproblematik in den verschiedenen Regionen des Nordostens und entwickelten gemeinsame Strategien für das weitere Vorgehen.
Mit der Ableitung eines Teils des Wassers des Rio São Francisco in die semi-ariden Gebiete des Nordostens Brasiliens will Präsident Lula ein bereits von mehreren Amtsvorgängern anvisiertes aber immer wieder verworfenes Vorhaben umsetzen. Die Bilder, die von der Regierung zur Durchsetzung dieses pharaonischen Vorhabens lanciert werden, sind eindringlich: dürstende, ausgezehrte Nordestinos auf ausgetrockneter Erde, die sowohl auf Regen als auch auf die Almosen der Regierung warten, während gleichzeitig einer der größten Flüsse Brasiliens sein kostbares Süßwasser ins Meer verschwendet.
Diesen Bildern setzten die VertreterInnen von Fischervereinigungen, Kleinbauerorganisationen, Landlosenbewegugen, indigenen Völkern, Quilombolas (Nachfahren entflohener Sklaven), kirchlichen Gruppen und Gewerkschaften ihre täglichen Erfahrungen gegenüber: der Velho Chico, wie der Fluss im Nordosten liebevoll genannt wird, ist aufgrund der intensiven Ausbeutung der natürlichen Ressourcen (Abholzung der natürlichen Vegetation, Plantagenwirtschaft, Einleitung der Abwässer der urbanen Zentren und der Minen etc.) und der intensiven Bewässerungswirtschaft zu einem verschmutzten Rinnsal degradiert worden, dessen Wassermassen nicht einmal mehr ausreichen, um in den sieben verschiedenen Staudämmen entlang des Flusslaufes genügend Energie zu erzeugen, geschweige denn den Fischern an den Flussufern eine Lebensgrundlage zu bieten. Gleichzeitig wurde betont, dass mit Hilfe eines angepassten Umgangs mit den unregelmäßig fallenden Niederschlägen (Bau von Zisternen, Auffangbecken, unterirdische Stauanlagen, angepasste Anbaumethoden etc.) ein würdiges Leben im semi-ariden Nordosten Brasiliens möglich ist.
Darüber hinaus erläuterte Manuel Bonfim, renommierter Bauingenieur, Hydrologe und ehemaliger Direktor des DNOCS (Nationale Behörde zur Bekämpfung der Dürre) - die Situation der Wasserversorgung im Nordosten Brasiliens aus wissenschaftlicher Sicht. In der Region fallen durchschnittlich zwischen 600 und 800 mm im Jahr während die unterirdischen Wasserressourcen - bei einer nachhaltigen Nutzung – ausreichen würden, die gesamte Bevölkerung des Nordosten mit ausreichend Wasser zu versorgen. Somit ist nicht die Verfügbarkeit, sondern vielmehr die ungerechte Verteilung der Wasserressourcen der Grund dafür, dass große Teile der Bevölkerung in der Region unter Wassermangel leiden. Die bis auf die Kolonialzeit zurückreichenden Machtstrukturen des Coronialismo basieren auf dem selektiven Zugang zu den natürlichen Ressourcen wie Land und Wasser. So ist es keine Seltenheit, dass Familien nur wenige hundert Meter neben einem der Bewässerungskanäle leben und nicht über ausreichend Wasser für die Deckung der Grundbedürfnisse verfügen, während gleichzeitig Wasser in Form von Früchten (hauptsächlich Mango und Trauben) und Energie (Wasserkraftwerke und Agrartreibstoffe) aus der Region exportiert wird. Dabei hat insbesondere die Frage der Energiesicherheit und der Boom der sogenannten Biotreibstoffe den Druck auf den ländlichen Raum im Nordosten in den letzten Jahren enorm verstärkt. So kann derzeit ein rasanter Landnutzungswandel hin zu wasserintensiven Kulturen wie bewässerte Zuckerrohrplantagen für Ethanolproduktion festgestellt werden.
Vor diesem Hintergrund wird es offensichtlich, dass durch das Ableitungsprojekt die Ursachen der Armut im Nordosten nicht angegangen werden, sondern ganz im Gegenteil die ungleiche Verteilung der natürlichen Ressourcen noch weiter verstärkt wird. Das Wasser des Rio São Francisco soll in erster Linie der exportorientierten intensiven Plantagenwirtschaft und der urbanen und industriellen Wasserversorgung dienen. Das von der Regierung Lula entwickelte Programm zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums (PAC), in dem das Ableitungsprojekt eine zentrale Komponente darstellt und in das in den nächsten Jahren Milliarden an Investitionen fließen sollen, ist somit ein weiteres erschreckendes Zeugnis für die technologische Fortschrittsgläubigkeit der Regierung Lula und gleichzeitig für die enge Verknüpfung zwischen Politik und Agrobusiness.
Somit war das Verhältnis zwischen den sozialen Bewegungen und der Regierung Lula zunächst einer der zentralen Diskussionspunkte auf der Konferenz… Bei der Frage nach der Art und Weise und der Radikalität des Vorgehens bestehen jedoch noch erhebliche Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Bewegungen… Besonders vor dem Hintergrund, dass im Oktober diesen Jahres in ganz Brasilien Kommunalwahlen stattfinden werden, müssen die Bewegungen im Stande sein, die Frage nach der Demokratisierung des Zugangs zu Wasser und zu Land in den Mittelpunkt der Debatten zu rücken. Somit war der Besuch einer von der Landlosenbewegung MST besetzten Bewässerungsfläche am Ende der Konferenz, bei der Bischof Dom Cáppio gemeinsam mit den TeilnehmerInnen der Konferenz eine Kapelle einweihte, weit mehr als eine symbolische Solidaritätserklärung. n