Landkonflikte – Kein Ende in Sicht, Agroindustrie weiter auf dem Vormarsch
Günther Schulz
Artêmio Gusmao, Leiter der Quilombola-Gemeinschaft Maçaranduba (Quilombolas sind Nachfahren von aus der Sklaverei geflohenen Schwarzen), der seit zwei Jahren immer wieder Morddrohungen ausgesetzt war, wurde Anfang 2016 ermordet und gevierteilt in der Nähe seines Hauses aufgefunden. Seit Jahren setzte er sich für die Demarkierung des Landes seiner Gemeinschaft ein; Großgrundbesitzern und Holzhändlern war er ein Dorn im Auge. Es scheint als würde auch im Jahr 2016 die traurige Bilanz des vergangenen Jahres mit offiziell 50 Morden aufgrund von Auseinandersetzungen auf dem Lande weiter geführt bzw. übertroffen. In den ersten fünf Monaten sind bereits 23 Landarbeiter als weitere Gewaltopfer zu verzeichnen (Quelle: CPT).
Der Bundesstaat Pará, in welchem Artêmio ermordet wurde, zählt gemeinsam mit dem Bundesstaat Rondônia zu den Staaten, in denen die Landkonflikte am stärksten eskalieren. In beiden Bundesstaaten ereigenete sich 2015 die Mehrzahl der tödlichen Konflikte. Auf Rondônia entfielen allein 21, auf Pará 19 Morde.
Ungehemmt vermehren sich landwirtschaftlicher Großflächen. Die Ausweitung von Soja, Zuckerrohr, und zunehmend Palmöl schreitet voran. Wurden in Brasilien 1990 erst 522.883 Tonnen Palmöl geerntet, so stieg die Produktionsmenge laut dem brasilianischen Institut für Geographie und Statistik (IBGE) im Jahr 2014 auf 1.393.873 Tonnen an. Dabei stellt der Nordosten des Bundesstaates Pará mit allein 1.187.338 Tonnen (85,18%) den Hauptanteil dar. Die Ausweitung der Anbauflächen erfolgt nicht ohne Konflikte – obwohl es auch zu Palmanpflanzungen auf Weideland kommt. Ein Beispiel ist das Quilombo Alto Acará: Hier raubte das Unternehmen Biopalma den Bewohnern einen Teil ihres Landes. Permanent übt das Unternehmen Druck auf die Menschen aus. Die Quilombolas haben keine Besitztitel und so stellt der Konzern sie vor die Wahl: Entweder sie pflanzen ebenfalls Palmen an oder sie verkaufen ihr Stück Land an den Konzern!
Landwirtschaftliches Hauptexportgut ist neben Kaffee und Orangen, Soja. 2014 erreichte die Sojaproduktion mit 86.760.520 Tonnen (Quelle: IBGE) einen neuen Höchststand. Am Beispiel des Bundesstaates Pará lässt sich exemplarisch das rasante Wachstum verdeutlichen: Hier stieg die Sojaproduktion von 1.353 Tonnen im Jahr 1997 auf 736.947 Tonnen im Jahr 2014. Es sind nicht mehr die klassischen Großgrundbesitzer, die hier den Ton angeben, es ist die Agrarindustrie, die die Richtung vorgibt; und in der ehemalige Großgrundbesitzer oftmals eine „Heimat“ gefunden haben. Auch die Region in Amazonien um Santarém hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Große Unternehmen ließen sich dort nieder und begannen mit dem Aufbau einer Infrastruktur, die es ermöglicht, Vorratsspeicher anzulegen und die Vermarktung von Soja voranzutreiben. Der US-Konzern Cargill errichtete bereits vor Jahren eine Verladestation in Santarém, zunächst illegal, aber nachträglich erreichte Cargill die Legalisierung…
Es wiederholt sich hier, was bereits in anderen Gebieten ablief: Abholzung, Ausweitung von Sojaflächen, extensive Rinderzucht. Die kurzfristige Aussicht auf Gewinn zieht wiederum Immobilienspekulationen nach sich. Es kommt zu unrechtmäßiger Aneignung von Land, durch den Einsatz von Agrotoxika zur Verseuchung von Wasser. Indigene Gemeinschaften werden unter Druck gesetzt wie das Beispiel der Tembé zeigt. Diese befinden sich ebenfalls in einer Auseinandersetzung mit dem Unternehmen Biopalma. Durch die Vergiftung der Flüsse wird ihnen zunehmend die Lebensgrundlage entzogen: Fische sterben, bisher unbekannte Krankheiten machen sich bemerkbar.
Allein in der Umgebung von Santarem verließen über 500 Familien in den letzten Jahren ihr Land; sie mussten der Sojaexpansion weichen. Aber auch die Viehzucht ist weiter auf dem Vormarsch. Vor allem in den Munizipien, die entlang der BR 163 sowie der Transamazônica und im Südosten Parás liegen, nimmt diese zu.
Landlosenbewegungen: David gegen Goliath
Eine grundlegende Agrarreform, die den noch verbleibenden schätzungsweise 4.6 Millionen Kleinbauern eine Überlebenschance bieten würde, ist nicht in Sicht. Dabei sind es gerade die Kleinbauernfamilien, die im heutigen Brasilien für die Produktion der Grundnahrungsmittel wie Bohnen, Reis und Maniok zuständig sind. So bleibt ihnen oftmals nur der Weg über die Besetzung von Land, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen.
Auch Dank der Organisation in Landlosenbewegungen erreichten in den Jahren von 1979 bis 2014 1,1 Millionen Familien ein Stück Land, eine feste Bleibe. (Quelle: DATALUTA 2014). Allerdings ließ der Mobilisierungsgrad in den letzten Jahren deutlich nach. Die Zahl der Landbesetzungen ist rückläufig. Von Seiten der Politik erfolgten zudem kaum mehr feste Ansiedlungen (assentamentos) der Kleinbauern. Anfangs 2016 kampieren weiter fast 100.000 landlose Familien in provisorischen Lagern (acampamentos) und warten auf ein Stück Land.
Obwohl die Besetzungen in den letzten Jahren rückläufig sind – 2014 gab es gerade noch 235 Besetzungen in ganz Brasilien mit einer Beteiligung von 30.888 Familien –, nimmt die Gewalt auf dem Lande nicht ab, im Gegenteil, sie nimmt zu. Opfer sind nicht nur die Landlosen, sondern Kirchenleute, Indigene, traditionelle Gemeinschaften wie die Quilombolas. Sie stehen den Interessen des Staates, der Landbesitzer bzw. dem Agrobusiness entgegen. So kam es am 7. April zu einer blutigen Auseinandersetzung, in deren Verlauf zwei Landlose ermordet und mindestens sechs Landlose im provisorischen Landlosenlager bei Quedas do Iguaçu verletzt wurden.
Die Zunahme der Gewalt ist auch ein Folge der gegenwärtigen politischen Situation. Seit Monaten ist ein politischer Stillstand zu beobachten, viele Politiker beschäftigten sich nur noch mit der Frage wie Dilma Rousseff, die vom Volk gewählte Präsidentin, gestürzt werden konnte. Insbesondere die bisherige Regierungspartei PMDB, die im April aus der neun Parteien umfassenden Koalition austrat und die zweitstärkste Kraft darstellte, verfolgte dieses Ziel und hatte Erfolg. (siehe Beiträge zur Amtsenthebung in dieser Ausgabe.)
Die ungerechte Besitzverteilung schreitet immer noch voran: Während sich 112 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Flächen in den Händen von 5,3 Millionen Landbesitzern befinden (Grundfläche bis 100 Hektar), konzentrieren sich in den Händen von 336 Landbesitzern 138,64 Millionen Hektar. (Quelle: IBGE)
Angesichts dieser Fakten bleibt den Landlosenbewegungen oft nichts anderes, als zu medienwirksamen Aktionen zu greifen: Während Landbesetzungen selbst oftmals nur noch eine Randnotiz in der örtlichen Presse wert sind, werden Straßenblockaden und die zeitweilige Besetzung von Behörden oder Banken eher zur Kenntnis genommen. Es ist ein ungleicher Kampf: Die Landbesitzer „globalisieren“ sich, d.h. allein in neunzig Agrarunternehmen steckt ausländisches Kapital oder befinden sich ganz in den Händen ausländischer Konzerne: Monsanto, Multigrain, Cargill sind mit die bekanntesten (Quelle: DATALUTA 2014). Sie überlassen die „Schmutzarbeit“ brasilianischen Kräften, schauen zu wie „Pistoleiros“ angeheuert werden, um Kleinbauern, Indigene u.a. einzuschüchtern oder im äußersten Fall auch zu ermorden. Hinzu kommt die Blindheit von Teilen der brasilianischen Justiz: Von 1.115 Morden zwischen 1985 und 2014 in Folge von Landkonflikten kam es gerade einmal zwölf Verurteilungen.
Neben dem Bündnis der klassischen Großgrundbesitzer mit der Agroindustrie trägt auch die Politik ihren Teil dazu bei, dass sich seit Jahrzehnten in der Agrarfrage kaum etwas bewegt. Auch unter der Regierung Lula 2002-2010 und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff änderte sich daran nichts. Von großen Hoffnungen getragen, unterstützt von fortschrittlichen Bewegungen wie MST, MTST, Basisgemeinden erfolgte die Ernüchterung durch die „Realpolitik.“ Allerdings konnte die Arbeiterpartei auch längst nicht das durchsetzen, was sie zuvor versprochen hatte und gerne durchgesetzt hätte. Um eine tragfähige Regierung bilden zu können, waren zu viele Kompromisse notwendig. Zuletzt anfangs 2016 regierten neun Parteien, im Parlament selbst sitzen 28 Parteien! Von den insgesamt 513 Abgeordneten im Kongress zählen 158 im Abgeordnetenhaus und 18 im Senat (insgesamt 81 Mitglieder) zur „Bancada Ruralista“ („Bank der Agrarier“), die kompromisslos die Interessen der Agroindustrie vertreten und jeden noch so bescheidene Ansatz hinsichtlich einer Agrarreform im Keim ersticken.
MST: 2015 – Ein „verlorenes Jahr“ für die Agrarreform
Die Bilanz für 2015 fiel von Seiten der größten Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) ernüchternd aus. João Pedro Stedile, seit Gründung der Landlosenbewegung an deren Spitze, übte heftige Kritik an der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff und bezeichnete 2015 als „verlorenes Jahr“ für die Agrarreform: „Sie versprach Ende 2014 den mehr als 100 000 in provisorischen Lagern lebenden Menschen Priorität bei deren permanenter Ansiedlung einzuräumen. In Wirklichkeit hat INCRA (Anm.: Die für die Ansiedlung zuständige Behörde) kein einziges Gebiet 2015 enteignet. Zudem hat die Regierung es versäumt, Ländereien, die seit 2012 enteignet wurden, zu entschädigen, d.h. der Großgrundbesitzer (Fazendeiro) hat die Möglichkeit, dieses Gebiet wieder zurückzufordern. Mittel für eine Agrarreform stehen zur Verfügung – was fehlt, ist der Mut“, so Stédile.
Zukunftsaussichten: Düster
Die Landlosenbewegungen durchlaufen eine schwierige Phase. Gab es bis vor einigen Jahren noch 126 unterschiedliche Landbewegungen, gibt es jetzt in ganz Brasilien noch etwas über zwanzig Organisationen, die sich mit der Landfrage beschäftigen. Darunter befindet sich der MST, der in fast allen Bundesstaaten vertreten ist und die stärkste Landlosenbewegung darstellt. Aber auch ihm fällt die Mobilisierung von Mitgliedern zunehmend schwerer. Ein breites Bündnis mit anderen Sozialen Bewegungen soll nun Abhilfe schaffen. Der Zusammenschluss in einer „Frente Brasil Popular“ ist ein erster Schritt, um die Schlagkraft zu erhöhen, damit das Ziel einer Agrarreform nicht utopisch erscheint. Die Durchsetzung einer Agrarreform ist letztlich nur im Zusammenspiel der Sozialen Bewegungen mit integren politischen Kräften erreichbar. Immerhin leben inzwischen fast 78 % der brasilianischen Bevölkerung in den Städten. Gelingt es den Landlosenbewegungen nicht, in den Städten und auch in der Politik Verbündete zu finden, wird es in der Agrarfrage keine Veränderungen geben. Das augenblickliche politische Szenario lässt befürchten, dass dies in naher Zukunft nicht wahrscheinlich ist. Ein unausweichlicher Schritt wäre eine grundlegende Reform des politischen Systems – es gibt keine Prozentklausel, 28 Parteien mit teilweise einem Abgeordneten sitzen im Kongress, eine kontinuierliche Politik ist nicht möglich. Wer verzichtet jedoch schon gerne auf seine Pfründe? In den nächsten Jahren wird sich wohl nicht viel ändern.
Für die Zukunft scheint auch keine Veränderung des auf Export ausgerichteten, agrarorientierten Modells in Aussicht, auch wenn derzeit die zu erzielenden Preise für Agrarprodukte im Keller sind. Betrachtet man zudem den neuen Agrarminister der Interimsregierung, Blairo Maggi, einer der größten Sojaproduzenten weltweit, erscheinen Fortschritte bezüglich einer Agrarreform unmöglich. Nur eine breite öffentliche Mobilisierung kann dieses Anliegen in der Öffentlichkeit noch wach halten.
Immer noch Sklavenarbeit
Nachdem seit 2014 nicht zuletzt auf Druck sowohl der Landlobby als auch der Baubranche, die „schmutzige Liste“ nicht mehr veröffentlicht worden war - sie enthält Namen von Unternehmen und Großgrundbesitzern, die wegen Sklavenarbeit oder unwürdigen Arbeitsverhältnissen zwischen Dezember 2013 und Dezember 2015 für schuldig befunden wurden – erfolgte auf Anfrage der Nicht-Regierungsorganisation Reporter Brasil und InPACTO (Institut des Nationalen Paktes für Beseitigung der Sklavenarbeit) Anfang 2016 erneut eine Veröffentlichung. Diese Liste des Arbeits- und Sozialministerium umfasst 340 Namen. Aus ihr geht hervor, dass es in Brasilien zwischen 2011 und 2014 zu 2260 Befreiungen von Menschen aus der Sklavenarbeit kam. Vor allem sind junge Männer, die auf Fazendas oder am Bau arbeiten, davon betroffen. Die Dunkelziffer kennt niemand. Immerhin trägt die Veröffentlichung dazu bei, einen gewissen Druck auszuüben und zu einer Legalisierung von Arbeitsverhältnissen beizutragen.
CPT - 40 Jahre Einsatz für die Landbevölkerung
1976: Die Militärs sind an der Macht, es ist eine Zeit der Verfolgungen und es ist das Jahr, in dem es zur Gründung der Landarbeiterpastoral CPT (Comissão Pastoral da Terra) kommt. Teile der katholischen Kirche, die nicht mit den Militärs kooperieren, erheben ihre Stimme für die Unterdrückten. Die CPT stellt sich auf die Seite der ausgebeuteten Landbevölkerung, fordert eine durchgreifende Agrarreform und ein Ende der sklavenähnlichen Verhältnisse auf dem Lande. Um den Forderungen mehr Nachdruck zu verleihen, beteiligt man sich einige Jahre später maßgeblich an der Entstehung der Landlosenbewegung MST im Jahre 1985. Auch 2016 besteht weiterhin eine punktuelle Zusammenarbeit, das gemeinsame Ziel verbindet weiterhin.
40 Jahre nach Gründung der CPT sind die grundlegenden Ziele die gleichen: Eine Agrarreform lässt weiter auf sich warten, Sklavenarbeit besteht weiterhin, weite Teile der Landbevölkerung sind rechtlos. Dies zeigt auch der Anfang des Jahres veröffentlichte Jahresbericht 2015 der Landpastoral.
2015 machte Brasilien vor allem Schlagzeilen durch die Aufdeckung zahlreicher Korruptionsaffären oder der wirtschaftlichen Krise. Weniger beachtet wurde die Zunahme der Landkonflikte. Es ist ein Verdienst der Landarbeiterpastoral CPT, seit vielen Jahren die Landkonflikte in ganz Brasilien zu dokumentieren und die Opfer nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. In der CPT haben die Kleinbauern und Landlosen einen wichtigen Ansprechpartner für ihre Belange. Die
BrasilienNachrichten gratulieren der CPT für ihren 40jähringen Einsatz zugunsten der Landbevölkerung.
Ausgabe 153/2016