Trotz Fukushima – Vertrauen in die Atomkraft
Trotz des Nuklear-Unglücks in Japan will Brasilien sein Atom-Programm unbeirrt fortsetzen. Die eigenen Kernkraftwerke seien sicherer als japanische, sagte Energie-Minister Lobão. Obwohl es in Brasilien keine nennenswerte Anti-Atomkraft-Bewegung gibt, werden nun freilich auch Gegenstimmen laut.
Das Unglück von Fukushima, schrieb die angesehene Zeitung „Folha de São Paulo“ mit hoffnungsfrohem Unterton, trage vielleicht dazu bei, dass die „phantastisch anmutende Idee zu Grabe getragen“ werde, mit der der Energieminister vor drei Jahren die Öffentlichkeit in Erstaunen versetzt hatte: in Brasilien künftig über 50 Atomkraftwerke zu bauen. Zu früh gehofft - Energieminister Edison Lobão sieht „keine Notwendigkeit“ zur Kurskorrektur.
„Wir werden unser Programm fortsetzen“, versicherte der Minister noch, als längst die Dimension der Atom-Katastrophe von Fukushima abzusehen war, „die Probleme, die die Atommeiler (in Japan) hatten, werden bei unseren nicht auftreten. Unsere sind sicherer, wir haben gar keinen Grund, uns Sorgen zu machen!“ Erst später schob er nach, man werde die Sicherheitsmaßgaben noch mal überprüfen.
In Brasilien laufen zurzeit zwei Blöcke des Kraftwerks Angra dos Reis, die 2,8 Prozent des brasilianischen Stromverbrauchs decken. Ein dritter Block wird gerade gebaut. Weitere vier Atommeiler, mit einer Leistung von 4.000 Megawatt, sind für die nähere Zukunft geplant. Die Zahl 50, die Lobão vor drei Jahren lancierte, drückt bisher eher das schier grenzenlose Vertrauen aus, das brasilianische Politiker und Atom-Manager in die andernorts umstrittene Technologie haben. Konkrete Planungen zum Bau der 50 Meiler sind, jedenfalls öffentlich, nicht bekannt.
Atomkraft ist in Brasilien praktisch völlig unumstritten. Dass die Wasserkraft, die den Löwenanteil der nationalen Stromproduktion hervorbringt, langfristig durch Atomkraft ergänzt werden muss, wie das Politiker und Atom-Manager immer wieder beteuern, wird kaum in Zweifel gezogen. Eine kürzlich aufgeflackerte Debatte über die Enddeponierung des in Angra I und Angra II erzeugten und dort zwischengelagerten Atommülls erlosch sofort wieder. Und kaum jemand hob die Augenbrauen, als Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva bei der Genehmigung von Angra III versicherte, Brasiliens Atom-Technologie sei „perfekt“: Er könne „garantieren, dass in Brasilien niemals das passiert, was in Tschernobyl passiert ist. Niemals.“
„Es gibt kein Risiko Null“, wendet heute dagegen Lulas früherer Umweltminister Carlos Minc ein. Angra I habe bereits 16 „leichte und mittelschwere“ Unfälle registriert. In Angra dos Reis aktive Umweltschützer beklagen Mängel der Notfall- und Evakuierungspläne; die Bewohner wüssten nicht einmal, wohin sie sich im Ernstfall wenden müssten. Brasilien habe „keine Präventionskultur“, sagt Minc, heute Umweltminister im Bundesland Rio de Janeiro.
Als 2010 im Golf von Mexiko die Ölplattform „Deepwater Horizon“ verunglückte, kam heraus, dass es keinen Notplan für eine Ölpest gibt, obwohl rund 200 Ölplattformen vor Brasiliens Küste stationiert sind. Mincs These wird auch auf einigermaßen makabere Art untermauert durch die verheerenden Erdrutsche in den Bergen oberhalb von Rio de Janeiro, die im Januar über 800 Menschen das Leben kosteten – die Behörden wussten um die Gefahren der viel zu dichten Bebauung steiler Hänge und unternahmen trotzdem nichts zur Prävention.
Atomkraft in Brasilien – das ist bisher eine Geschichte der Fehlschläge. Angra I war ein zunächst für Costa Rica geplanter, dann in den Siebzigern für Brasilien umkonstruierter Pleite-Meiler US-amerikanischer Bauart, der zum Beispiel 1994 nur 14 Tage in Betrieb war. Nach Umrüstungen läuft er heute halbwegs zuverlässig.
Der Siemens-Reaktor Angra II begann nach 25 Jahren Planungs- und Bauzeit erst im Jahr 2000 seine Stromproduktion von 1.350 Megawatt. Das Atomabkommen, das Brasiliens rechte Militärs in den Siebzigern des letzten Jahrhunderts mit Bonn schlossen, „kostete Brasilien rund acht Milliarden Dollar und war ein Fehlschlag“, urteilte der Energie-Experte Luiz Pinguelli Rosa. Da die Militärs stets im Verdacht standen, die Atomkraft nicht allein für zivile Zwecke zu nutzen, lief der damalige US-Präsident Jimmy Carter Sturm gegen den deutsch-brasilianischen Atom-Deal.
Die Teile für Angra III wurden Anfang der Achtziger für 750 Millionen Dollar in Deutschland gekauft. Aber da für den Bau ein Vierteljahrhundert lang das Geld und der politische Wille fehlten, wurden die Teile so lange eingelagert – geschützt gegen Feuchtigkeit, Salzwasser und Tropenhitze, bei Lagerkosten von 20 Millionen Dollar im Jahr.
Was Angra II gekostet hat, ist strittig: Nicht mehr als zwei Milliarden Dollar, sagt eine Sprecherin von Eletronuclear, der Betreiberfirma – die Gegner würden ja immer die höheren Zahlen nennen. Mag sein. Aber die Befürworter nennen dafür immer die niedrigeren. Ein mittlerweile pensionierter Siemens-Mann, der Angra II mitgebaut hat, schätzt die Kosten auf sechs Milliarden Dollar.
Wolfgang Kunath ist Korrespondent der Stuttgarter Zeitung und lebt in Rio de Janeiro.