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Vertreibungen getarnt als Katastrophenschutz

Sandra Weiss, Puebla/Mexiko

Vor fünf Jahren brach in Brumadinho ein Damm mit giftigem Minenabraum und tötete 270 Menschen. Weitere Dämme sind brüchig. Vale nutzt dies für selektive Zwangsräumungen am Rande eines eisenerzreichen Naturschutzgebietes.

Barão de Cocais. Manchmal befällt Amarir de Moraes Nostalgie. Dann schleicht er sich heimlich in sein altes Haus, fegt den Dreck der Fledermäuse weg und genießt den Blick auf den kleinen Bach unterhalb der Kolonialkirche. Socorro hieß der Ort in Zentralbrasilien, an dem er und seine rund 400 Nachbarn bis vor fünf Jahren lebten. Heute ist es ein Geisterdorf, sogar der Wikipedia-Eintrag ist verschwunden, klagt der 50-Jährige – obwohl die Kirche aus dem 18. Jahrhundert unter Denkmalschutz steht. Weil er einmal auf so einer Stippvisite vom Wachdienst des Minenkonzerns Vale erwischt wurde, hat Moraes einen Strafprozess am Hals.
Socorro liegt in einem Bundesstaat, den die portugiesischen Eroberer Minas Gerais - Allgemeine Minen - nannten. Wegen der dort reichen Vorkommen von Erzen, Gold und Diamanten wurde die Gegend die Schatzschatulle der Portugiesen – und sie ist bis heute eine Geldmaschine geblieben. Der brasilianische Bergbaugigant Vale, der die meisten Minen in der Region betreibt, ist der drittgrößte Minenkonzern weltweit mit 134.000 Mitarbeitern und 44 Milliarden Jahresumsatz. Ein profitables, börsennotiertes Unternehmen, Aktionäre sind unter anderem Blackrock und Goldman Sachs. 
Leben und Tod im Schatten des Profits
Vale ist die graue Eminenz von Minas Gerais. Die Firma finanziert Wahlkampagnen und Freizeitparks, spendiert Ambulanzen und richtet Dorffeste aus. Im Internet wirbt das Unternehmen mit seinen Umwelt- und Sozialstandards. Doch Vale ist für die beiden größten Umweltkatastrophen Brasiliens verantwortlich – den Dammbruch von Brumadinho am 25. Januar 2019 und den von Mariana 2015. Eine internationale wissenschaftliche Studie kam 2021 zu dem Schluss, dass Vale ein Paradebeispiel für einen sozial unverantwortlichen Konzern ist. 
Das hat auch mit dem Abraum zu tun: Beim Eisenerzabbau entsteht tonnenweise giftiger Schlick, der in Rückhaltebecken gelagert wird. Doch die sind latent gefährlich – weil Konzerne sie überfrachten, oder weil Starkregen sie aufweicht. Bricht der Damm, überrollt eine giftige Schlammlawine alles darunter Liegende, bahnt sich ihren Weg ins Tal, vergiftet Flüsse und ergießt die toxische Fracht schließlich ins Meer. So passierte es in Mariana und Brumadinho. Die Dämme werden zwar geprüft – aber die Prüfer sind nicht unabhängig, sondern vom Unternehmen bezahlt. Deshalb werden gerne Gefälligkeitszertifikate ausgestellt. So eines erteilte der TÜV-Süd für den Damm von Brumadinho – wenige Monate vor dem fatalen Dammbruch, der 2019 insgesamt 270 Menschen in den Tod riss. Bis heute hat sich an dem Verfahren nichts geändert. Auch oberhalb von Socorro befindet sich ein baugleiches Rückhaltebecken.
Nächtliche Zwangsräumung
Am 17. Februar 2019 schrillten in Socorro die Sirenen und rissen die Einwohner aus dem Schlaf. “Die Polizei war da, Busse, der Bürgermeister, Abgeordnete”, erinnert sich Moraes. “Sie riefen was von Dammbruch und dass wir evakuiert werden sollten. Die meisten hatten nicht einmal Zeit, ihre Koffer zu packen.” Ihm kam das spanisch vor – bei einem akuten Dammbruch wäre wohl kaum die Politprominenz gekommen. “Aber niemand wollte auf mich hören.” Zu frisch waren die schrecklichen Bilder aus Brumadinho.
Vale erklärte der Presse, man habe den oberhalb gelegenen Damm Gongo Soco auf Alarmstufe drei gesetzt – das heisst, dass ein akuter Dammbruch droht. Doch der ist bis heute nicht erfolgt. Ein Drohnenüberflug über den Damm Ende 2023 zeigt: Er ist praktisch leer und trocken. 70 Prozent des Schlamms seien abgetragen, sagt ein Firmensprecher. Bis spätestens 2035 sei der Damm leer und saniert. Ob die Einwohner dann zurückkehren könnten, beantwortete er nicht. Moraes wohnt inzwischen in der nächstgelegenen Stadt, seine fünf Kinder vermissen das Dorfleben, sagt er. Doch er ist einer der wenigen, die ihr Land nicht verkauft haben an Vale. “Die meisten sind irgendwann mürbe geworden und haben  Spottpreise akzeptiert“, erzählt er. Sein Herz hängt an Socorro, dort will er einmal begraben werden.
Umweltschützer sehen Megaprojekt hinter Staudamm-Terrorismus
Die Umweltschützerin Maria Teresa Corujo ist empört. “Das nenne ich Staudamm-Terrorismus“, sagt sie. „Mehr als 200 Dämme in Minas Gerais haben Probleme”, sagt sie. Dafür, dass ausgerechnet Socorro und drei umliegende Gemeinden geräumt wurde, hat sie eine Erklärung: “Der Konzern will sich erweitern und siedelt die Bevölkerung mit solchen Methoden und staatlicher Beihilfe um.” Pläne dafür gibt es seit Jahrzehnten. “Apolo” heisst die Megamine, die sich über 1594 Hektar erstrecken würde. Die Konzession dafür hat Vale, doch die Umweltbehörden verweigerten fünfmal die Umweltlizenzen. 
Denn die Mine würde einen der letzten intakten Überreste des Atlantischen Regenwalds zerstören und sich genau mit den Wasserreservoirs überschneiden, aus denen die Millionenstadt Belo Horizonte ihr Trinkwasser bezieht. Nach jahrzehntelangem Kampf haben es Umweltschützer geschafft, dass 2014 ein Nationalpark eingerichtet wurde. “Wissenschaftler hatten 38.000 Hektar ausgewiesen, die wurden auf Druck der Bergbauindustrie aber auf 31.000 Hektar verkleinert”, kritisiert Corujo. Ausgespart wurden ausgerechnet Zonen, in denen reiche Eisenerzvorkommen lagern – auch rund um Socorro.
Der Trick mit den Mini-Minen in der Pandemie
Etwas oberhalb des Dorfes rattern jetzt im Minutentakt mit Gestein beladene Schwerlaster vorbei – auch Moraes fährt einen davon. “Es gibt hier keine anderen Jobs”, seufzt er. Die Vegetation am Straßenrand ist mit feinem, rotem Staub überzogen. “In der Pandemie erteilte die Regionalregierung kleineren Minenbetreibern im Eilverfahren Konzessionen”, erzählt Corujo. Begründet wurde das mit der wirtschaftlichen Notwendigkeit, Arbeitsplätze und Einkommen zu schaffen. Corujo vermutet, dass diese sogenannten Miniminen nur Fassaden sind und für Vale arbeiten. So werde das Förderverbot für Apolo durch die Hintertür ausgehebelt, kritisieren Umweltschützer.
Die Minimine Lopes befindet sich einen halben Kilometer vom Nationalpark entfernt. Auch ihr wurde die Umweltlizenz zweimal verweigert und dann in der Pandemie eilig erteilt. Das Loch, das sie in zwei Jahren in den Berg gefressen hat, beeindruckt sogar Corujo. Lässt man die Mine hinter sich, werden die Staubpisten rasch abgelöst von Wald, der LKW-Lärm weicht Vogelgezwitscher. In einer Lagune entnimmt der Biologe Flavio Fonseca von der staatlichen Universität Wasserproben. 
Hitzeresistente Vegetation und Wasserspeicher
Canga heißt die spezielle geologische Formation von 50 Millionen Jahren alten, extrem harten und oft magnetischen Gesteinsschichten, die chemisch und physikalisch resistent gegen Verwitterungs- und Erosionsprozesse sind. Unter der Oberfläche bilden sich Höhlen, die Wasser filtern und seltene, endemische Tierarten beherbergen. “Wir wissen noch viel zu wenig über dieses Ökosystem”, sagt er. Die Nachbarschaft zu den Minen ist problematisch, oft verweigert der allgegenwärtige Sicherheitsdienst von Vale Wissenschaftlern den Zutritt zu Lagunen oder Höhlen am Rande des Nationalparks.
Innerhalb des Schutzgebietes hat Fonseca aber einiges zusammengetragen: Dort leben der vom Aussterben bedrohte Chaco-Adler, Jaguare und Pumas. Es finden sich Dinosaurier-Fossilien, Höhlenmalereien, auch das Skelett der ca. 11.000 Jahre alten Luzia, der “Urmutter aller Brasilianer”, wurde in der Nähe gefunden. Es gibt Pflanzen, die Temperaturen bis 50 Grad Celsius aushalten – eine wichtige Eigenschaft in Zeiten des Klimawandels. “Darf man das alles zerstören, um in Industrieländern Autos, Brücken, Windturbinen, Eisenbahnschienen und Haushaltsgeräte zu bauen?” fragt Corujo. 
Versteckspiel mit Statistiken
Ein Teil der Exporte geht nach Europa. Brasilien ist bei den Eisenerzimporten nach Deutschland an dritter Stelle; auch an der Frankfurter Börse ist Vale notiert. Der Konzern hat eine Zweigstelle in der Schweiz und exportiert vermutlich auch nach Österreich. Doch die Voestalpine, der größte Eisenerzimporteur Österreichs, gibt sich bedeckt. „Wir geben hier aufgrund einer internen Unternehmensrichtlinie keine Auskunft“, erklärte ein Firmensprecher. NGOs sprechen von einer Totalunterdrückung der statistischen Daten. Aber selbst in Deutschland ist es trotz Lieferkettengesetz für Außenstehende schwierig, die Eisenerzimporte bis zur Ursprungsmine zu verfolgen, klagt Constantin Bittner, Bergbauexperte bei Misereor. ThyssenKrupp und ArcelorMIttal, die beiden größten in Deutschland tätigen Stahlkonzerne, antworteten nicht auf eine Presseanfrage zu ihren Lieferanten.
Die Bevölkerung der Region profitiert zwar von Arbeitsplätzen, doch der Verlust an Lebensqualität durch Lärm und Luftverschmutzung ist enorm. Dabei gäbe es wirtschaftliche Alternativen zum Bergbau: Die von kolonialen Ruinen und malerischen Wasserfällen durchsetzte Berggegend ist ein ideales Naherholungsgebiet. Doch nur wenige kennen es. Nur selten gelingt es den Umweltschützern, die Lehrer der umliegenden Schulen von einem Klassenausflug in den Nationalpark zu überzeugen. “Von den 355 umliegenden Dörfern leben 100 komplett vom Bergbau”, sagt Corujo. “Dort sind wir gebrandmarkt.” Auch ein Hotelier aus Barão de Cocais kämpft: “Ich kam vor drei Jahren und setzte auf den Wandertourismus. Aber die wenigen Besucher  kommen wegen der vielen LKWs nicht wieder. Mein Restaurant musste ich wegen der Staubbelastung aus hygienischen Gründen dicht machen”, klagt er. Seinen Nachnamen will er nicht nennen - seine Hauptkunden sind inzwischen Zulieferer der Minen.


Sandra Weiss, Politologin (IEP, Paris) und Ex-Diplomatin, arbeitet seit 1999 als freie Korrespondentin in Lateinamerika.  Sie wurde schon mehrfach für ihre Beiträge ausgezeichnet, u.a.  erhielt sie 2023 den Constructive World Award.

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