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Von fliegenden Flüssen, umgestülpten Wäldern und der trockenen Stadt

Christian Russau

In der Millionenmetropole São Paulo erreichte die Trinkwasserversorgung Ende Oktober dieses Jahres einen historischen Tiefpunkt. Bis zu 60 Prozent der Haushalte waren zeitweise ohne Wasserversorgung. Was könnte das mit fliegenden Flüssen und doppelt umgestülpten Wäldern zu tun haben?
So trocken war es noch nie


São Paulos wichtigstes Reservebecken, Cantareira, fiel zwischenzeitlich auf den niedrigsten Stand aller Zeiten: 3,3 Prozent. Anfang November regnete es, sodass Cantareira wieder auf 12 Prozent anstieg. Dennoch steht São Paulo vor unsicheren Zeiten, was die Wasserversorgung angeht. Die UN-Berichterstatterin für das Recht auf Wasser erklärte unlängst, dass die Regierung des Bundesstaates unter Gouverneur Alckmin es versäumt habe, die entsprechenden Maßnahmen wie Einsparungen, Effizienzsteigerung und rechtzeitige Investitionen in Instandhaltung und Modernisierung zu ergreifen.
Indessen ist die Wasserkrise, wie sie in Brasilien mittlerweile allenthalben heißt, ein großflächigeres Phänomen. Die Tageszeitung Folha de São Paulo errechnete, dass von der gegenwärtigen Wasserkrise 24 Millionen Menschen im Trockenzirkel von São Paulo und Minas Gerais betroffen sind. Währenddessen dürfen im Bundesstaat Minas Gerais beispielsweise die Bergbauunternehmen weiterhin dem frischen Nass frönen, um ihre Produktion aufrecht zu erhalten.
Doch um die gegenwärtige Trockenheit in ihren Dimensionen und möglichen Ursachen zu begreifen, scheinen noch zwei bisher eher vernachlässigte Faktoren von Belang zu sein: Denn inwieweit könnte die derzeit extreme Wasserknappheit in São Paulo mit der zunehmenden Inwertsetzung der Trockensavanne des brasilianischen Cerrado und Amazoniens zusammenhängen?
Den auf dem Kopf
stehenden Wald umstülpen
Altair Sales Barbosa, Wissenschaftler an der PUC Goiás, gibt Antworten auf die erste Frage: Welcher Zusammenhang besteht zwischen der derzeitigen Dürre São Paulos und der Inwertsetzung der Trockensavanne des Cerrado? (s.auch Beitrag in dieser Ausgabe)
Durch die Inwertsetzung des Cerrados in den vergangenen Jahrzehnten mit Vieh- und Landwirtschaft, Monokulturen und Pflanzen, die nicht natürlich an den Cerrado angepasst sind, verändert sich die Landschaft, die Flora und die Fauna - und somit auch der Wasserhaushalt in der Cerrado-Region und den darunter liegenden Aquiferen, die als Zuflüsse der Fließgewässer auch die Region São Paulos mit Wasser versorgen. Der Cerrado zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sich wegen der langen Trockenzeiten ein Großteil des in der Region gespeicherten Wassers im Erdreich ansammelt und dort zum Großteil in den Wurzeln der im Cerrado endemischen Bäume gespeichert ist. Und dieses dort im Wurzelwerk gespeicherte Wasser dringt nach Darstellung Barbosas von dort auch in die unterirdischen Aquifere vor. Dieses im Gleichgewicht befindliche Modell des umgestülpten Waldes ist aber durch die fortschreitenden Monokulturen zunehmend in Gefahr - und das ganze System kippt, wenn nun also der umgestülpte Wald gleichsam nochmal umgestülpt wird. Das Gegenteil wird erreicht. Soja und andere Monokulturen veränderten die Bodenstruktur, der umgestülpte Wald ist wieder zurückgestülpt, und das Wasser dringt nicht mehr so wie zuvor ins Erdreich und von dort auch nicht mehr in die Aquifere - und somit sitzt - in brutaler, aber folgerichtiger Evidenz - São Paulo nun zunehmend auf dem Trockenen.
Fliegende Flüsse
und die trockene Stadt
Einen weiteren Erklärungsansatz liefert Antonio Nobre vom nationalen Forschungsinstitut für Raumfragen INPE. Nobre sieht einen Zusammenhang der Wasserknappheit São Paulos mit der Rodung Amazoniens. Denn: Rodung in Amazonien bedeutet weniger Verdunstung in Amazonien, weniger Wolken, die an den Anden hängen bleiben und von dort gen Süden gedrängt werden, wo sie sich dann abregnen und die Quellgebiete der Flüsse, welche die Großregion São Paulo mit Wasser beliefern, mit eben diesem Grundstoff allen Lebens versorgen.
Welche Bedeutung hat demnach die Verdunstung in Amazonien? Und welche Bedeutung hat dann die zunehmende Inwertsetzung Amazoniens in Form von Tropenholzrodung, Viehwirtschaft, Monokulturen, Bergbau und Staudämmen?
Laut Antonio Nobre hat die Rodung Amazoniens enorme Konsequenzen für das Klima der ganzen Region. Laut Nobre bietet ein Quadratmeter Fluss- oder Meerwasser die Verdunstungsfläche von eben einem Quadratmeter. Im amazonischen Regenwald böten aber das vielschichtige, in die Höhe von bis zu 40 Meter reichende Blattwerk der Pflanzenwelt auf einem Quadratmeter Regenwaldbodens das Acht- bis Zehnfache an potentieller Verdunstungsfläche. Und hier zeigt sich die Bedeutung der fliegenden Flüsse. Der Begriff der „Flying rivers“ wurde von dem Meteorologen Jose Marengo geprägt. Fliegende Flüsse bezeichnet die Verdunstung von errechnet 20 Milliarden Tonnen Wasser in Amazonien jeden Tag. Zum Vergleich: Der weltgrößte Fluss der Welt, der Amazonas, speist täglich 19 Milliarden Tonnen Wasser in den Atlantik. Der Begriff der Fiegenden Flüsse meint demnach den Vorgang der täglichen Verdunstung von 20 Milliarden Tonnen Wasser zu Wolken durch Amazoniens Blattwerk, von dem sich 50 Prozent in Amazonien selbst wieder abregnen und zehn Milliarden Tonnen gen Westen an den sechstausend Metern hohen Anden blockiert werden. Von dort werden sie nach Süden getrieben und regnen sich über dem Wassereinzugsgebiet auch des Großraums São Paulo ab. Und wird die Verdunstung in Amazonien durch Inwertsetzung, sprich: Rodung der Region, gemindert, so mindert dies auch die Wassermenge  für das Wassereinzugsgebiet von São Paulo. Der Urspung der trockenen Stadt liegt also auch im doppelt umgestülpten Wald und im Versiegen der Fliegenden Flüsse Amazoniens.

Ausgabe 150/2014